Familientagebuch (1917-1922) von Gustav Braune (1870-1954), item 42

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 linke Seite 

entlassen bin. Ich reihe ein Urlaubsgesuch

für die  restigen  8 Tage

ein, damit ich nicht wieder nach

Würzburg muß. Gegen Dunkelwerden

wollte ich in einem kleinen Kafé in

der Weingartenstraße, ausgefroren

u. müd wie ich bin, noch eine Tasse

Kaffee trinken, dort glaubt ich in

einer dunklen Ecke eine Bank zu sehen,

setzte mich aber in die Luft u.

gelangte unsanft auf dem Fußboden

an, wobei ich mir das linke

Kniegelenk etwas beschädige,

sodaß ich 2 Tage Schmerzen habe,

namentlich in der ersten Nacht. -

Da hat man nun eine große Wohnung

eingerichtet u. sitzt doch -

infolge der Kohlennot wieder in

engsten Stübchen eng gedrängt

aufeinander, man kann wegen des

Lärms keinen Gedanken fassen.

Noch viel verzweifelter ist aber die

Lage unseres Vaterlandes. Der Bolschewismus

droht uns zu vernichten

u. zu zerstückeln. Die Berliner

Spartakusgruppe, die von

Liebknecht und Rosa Luxemburg

geführt wird, die Anarchosozialisten

 rechte Seite 

wollen die revolutionäre Diktatur

mittels des Terrors der Maschinengewehre

fortsetzen u. die ganze bürgerliche

Gesellschaft womöglich umbringen,

sie widerstreben der von der gemäßigten

Richtung der Sozialdemokraten (die

um Scheidemann) u. von den Bürgerlichen

geforderten Einberufung der Nationalversammlung,

die eine Verfassung geben

soll. Die Polen fallen in Deutschland

ein u. suchen die Provinz Posen an sich

zu reißen, sie haben die Stadt Posen

besetzt. Die Franzosen lassen kein Haar

von den vernichtenden Waffenstillstandsbedingungen

nach, namentlich

nicht von der überschnellen Räumung

des linken Rheinufers, die uns verhindert,

die aufgestapelten Lebensmittelvorräte

zurückzubringen, und

von der Ablieferung der 150000 Eisenbahnwägen,

deren Mangel uns Hungersnot

und Kohlenot u. damit

Aufruhr u. Chaos zu bringen droht.

Ein Zustand zum Erbarmen. - Die

Kinder sind bei alledem munter u.

lustig. Lydi feiert den 10. Geburtstag.

Ich gehe mit Ernst öfter nachmittags

nach der Schule spazieren (Schwebheimer

Wald.) Vom Chamer Neffen Fritz

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 linke Seite 

entlassen bin. Ich reihe ein Urlaubsgesuch

für die  restigen  8 Tage

ein, damit ich nicht wieder nach

Würzburg muß. Gegen Dunkelwerden

wollte ich in einem kleinen Kafé in

der Weingartenstraße, ausgefroren

u. müd wie ich bin, noch eine Tasse

Kaffee trinken, dort glaubt ich in

einer dunklen Ecke eine Bank zu sehen,

setzte mich aber in die Luft u.

gelangte unsanft auf dem Fußboden

an, wobei ich mir das linke

Kniegelenk etwas beschädige,

sodaß ich 2 Tage Schmerzen habe,

namentlich in der ersten Nacht. -

Da hat man nun eine große Wohnung

eingerichtet u. sitzt doch -

infolge der Kohlennot wieder in

engsten Stübchen eng gedrängt

aufeinander, man kann wegen des

Lärms keinen Gedanken fassen.

Noch viel verzweifelter ist aber die

Lage unseres Vaterlandes. Der Bolschewismus

droht uns zu vernichten

u. zu zerstückeln. Die Berliner

Spartakusgruppe, die von

Liebknecht und Rosa Luxemburg

geführt wird, die Anarchosozialisten

 rechte Seite 

wollen die revolutionäre Diktatur

mittels des Terrors der Maschinengewehre

fortsetzen u. die ganze bürgerliche

Gesellschaft womöglich umbringen,

sie widerstreben der von der gemäßigten

Richtung der Sozialdemokraten (die

um Scheidemann) u. von den Bürgerlichen

geforderten Einberufung der Nationalversammlung,

die eine Verfassung geben

soll. Die Polen fallen in Deutschland

ein u. suchen die Provinz Posen an sich

zu reißen, sie haben die Stadt Posen

besetzt. Die Franzosen lassen kein Haar

von den vernichtenden Waffenstillstandsbedingungen

nach, namentlich

nicht von der überschnellen Räumung

des linken Rheinufers, die uns verhindert,

die aufgestapelten Lebensmittelvorräte

zurückzubringen, und

von der Ablieferung der 150000 Eisenbahnwägen,

deren Mangel uns Hungersnot

und Kohlenot u. damit

Aufruhr u. Chaos zu bringen droht.

Ein Zustand zum Erbarmen. - Die

Kinder sind bei alledem munter u.

lustig. Lydi feiert den 10. Geburtstag.

Ich gehe mit Ernst öfter nachmittags

nach der Schule spazieren (Schwebheimer

Wald.) Vom Chamer Neffen Fritz


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  • October 12, 2017 14:05:55 Daniela Z

     linke Seite 

    entlassen bin. Ich reihe ein Urlaubsgesuch

    für die  restigen  8 Tage

    ein, damit ich nicht wieder nach

    Würzburg muß. Gegen Dunkelwerden

    wollte ich in einem kleinen Kafé in

    der Weingartenstraße, ausgefroren

    u. müd wie ich bin, noch eine Tasse

    Kaffee trinken, dort glaubt ich in

    einer dunklen Ecke eine Bank zu sehen,

    setzte mich aber in die Luft u.

    gelangte unsanft auf dem Fußboden

    an, wobei ich mir das linke

    Kniegelenk etwas beschädige,

    sodaß ich 2 Tage Schmerzen habe,

    namentlich in der ersten Nacht. -

    Da hat man nun eine große Wohnung

    eingerichtet u. sitzt doch -

    infolge der Kohlennot wieder in

    engsten Stübchen eng gedrängt

    aufeinander, man kann wegen des

    Lärms keinen Gedanken fassen.

    Noch viel verzweifelter ist aber die

    Lage unseres Vaterlandes. Der Bolschewismus

    droht uns zu vernichten

    u. zu zerstückeln. Die Berliner

    Spartakusgruppe, die von

    Liebknecht und Rosa Luxemburg

    geführt wird, die Anarchosozialisten

     rechte Seite 

    wollen die revolutionäre Diktatur

    mittels des Terrors der Maschinengewehre

    fortsetzen u. die ganze bürgerliche

    Gesellschaft womöglich umbringen,

    sie widerstreben der von der gemäßigten

    Richtung der Sozialdemokraten (die

    um Scheidemann) u. von den Bürgerlichen

    geforderten Einberufung der Nationalversammlung,

    die eine Verfassung geben

    soll. Die Polen fallen in Deutschland

    ein u. suchen die Provinz Posen an sich

    zu reißen, sie haben die Stadt Posen

    besetzt. Die Franzosen lassen kein Haar

    von den vernichtenden Waffenstillstandsbedingungen

    nach, namentlich

    nicht von der überschnellen Räumung

    des linken Rheinufers, die uns verhindert,

    die aufgestapelten Lebensmittelvorräte

    zurückzubringen, und

    von der Ablieferung der 150000 Eisenbahnwägen,

    deren Mangel uns Hungersnot

    und Kohlenot u. damit

    Aufruhr u. Chaos zu bringen droht.

    Ein Zustand zum Erbarmen. - Die

    Kinder sind bei alledem munter u.

    lustig. Lydi feiert den 10. Geburtstag.

    Ich gehe mit Ernst öfter nachmittags

    nach der Schule spazieren (Schwebheimer

    Wald.) Vom Chamer Neffen Fritz


  • October 12, 2017 14:03:02 Daniela Z

     linke Seite 

    entlassen bin. Ich reihe ein Urlaubsgesuch

    für die  restigen  8 Tage

    ein, damit ich nicht wieder nach

    Würzburg muß. Gegen Dunkelwerden

    wollte ich in einem kleinen Kafé in

    der Weingartenstraße, ausgefroren

    u. müd wie ich bin, noch eine Tasse

    Kaffee trinken, dort glaubt ich in

    einer dunklen Ecke eine Bank zu sehen,

    setzte mich aber in die Luft u.

    gelangte unsanft auf dem Fußboden

    an, wobei ich mir das linke

    Kniegelenk etwas beschädige,

    sodaß ich 2 Tage Schmerzen habe,

    namentlich in der ersten Nacht. -

    Da hat man nun eine große Wohnung

    eingerichtet u. sitzt doch -

    infolge der Kohlennot wieder in

    engsten Stübchen eng gedrängt

    aufeinander, man kann wegen des

    Lärms keinen Gedanken fassen.

    Noch viel verzweifelter ist aber die

    Lage unseres Vaterlandes. Der Bolschewismus

    droht uns zu vernichten

    u. zu zerstückeln. Die Berliner

    Spartakusgruppe, die von

    Liebknecht und Rosa Luxemburg

    geführt wird, die Anarchosozialisten

     rechte Seite 

    wollen die revolutionäre Diktatur

    mittels des Terrors der Maschinengewehre

    fortsetzen u. die ganze bürgerliche

    Gesellschaft womöglich umbringen,

    sie widerstreben der von der gemäßigten

    Richtung der Sozialdemokraten (die

    um Scheidemann) u. von den Bürgerlichen

    geforderten Einberufung der Nationalversammlung,

    die eine Verfassung geben

    soll. Die Polen fallen in Deutschland

    ein u. suchen die Provinz Posen an sich

    zu reißen, sie haben die Stadt Posen

    besetzt. Die Franzosen lassen kein Haar

    von den vernichtenden Waffenstillstandsbedingungen

    nach, namentlich

    nicht von der überschnellen Räumung

    des linken Rheinufers, die uns verhindert,

    die aufgestapelten Lebensmittelvorräte

    zurückzubringen, und

    von der Ablieferung der 150000 Eisenbahnwägen,

    deren Mangel uns Hungersnot

    und Kohlenot u. damit

    Aufruhr u. Chaos zu bringen droht.

    Ein Zustand zum Erbarmen. - Die

    Kinder sind bei alledem munter u.

    lustig. Lydi feiert den 10. Geburtstag.

    Ich gehe mit Ernst öfter nachmittags

    nach der Schule spazieren ( Schwebheimer 

    Wald.) Vom Chamer Neffen Fritz


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Vera Braune
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http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/


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