Familientagebuch (1917-1922) von Gustav Braune (1870-1954), item 38
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XLIV (3. - 9. November) Zum 82.
Geburtstag meiner l. Mutter (6. Nov.)
stifte ich dieses Jahr keinen Kranz auf
ihr Grab in Einersheim; denn die
Preise sind ungeheuerlich. Die Schachtel
würde allein 3 M kosten, die Hälfte
des Kranzes. Dazu kommen noch die
Portokosten mit nahezu 2 M. Ein
solcher Aufwand läge nicht im Sinne
der Entschlafenen, glaube ich. Am
Montag beginnt wieder die Volksschule;
wird aber nach einigen Tagen
wieder geschlossen, weil die Grippe
wieder zunimmt. Dienstag bekommen
wir ein Telegramm, daß die Mutter
unserer Magd Margaret nach nur
2 tägiger Krankheit an Lungenentzündung
(Folge der Grippe) gestorben
ist. Damit ist die Magdfrage aufs
neue für uns brennend worden,
denn Marg. muß nun zuhause die
Wirtschaft versehen u. kann nicht
mehr kommen. - Mutter fühlt
Schmerzen auf der Lunge u. fragt Dr.
Tretzel, der zum Glück nur Rheumatismus
infolge der häuslichen Überanstrengung
feststellt; das ist doch besser als
die spanische Krankheit. Der Zeitungsbericht
verzeichnet in 3 Tagen etwa
80 Todesfälle, meist Kinder und jüngere
rechte Seite
weibliche Personen. Auf politischem
bzw. militärischem Gebiet bringt jeder
Tag eine solche Fülle an Umwälzungen,
daß man Bücher schreiben könnte; der
Bolschewismus in Österreich u. Ungarn,
Einrücken der Italiener in Bozen, Hinüberzüngeln
der bolschewistischen Unruhen
auf Deutschland: Hamburg, Hannover,
München. Und am Samstag wird
auch in - Würzburg auf dem Marktplatz
die bayerische Republik ausgerufen.
Der Arbeiter- und Soldatenrat besetzt
das Generalskommando gerade, nachdem
unsere Samstagssitzung zu Ende gegangen
ist. Im Huttischen Garten sind Versammlungen,
die Menge verhält sich aber
wider Erwarten ruhig. Nur werden
den Soldaten, wenn sie es nicht selbst
tun, die Kokarden, vor allem die deutschen,
herabgerissen, den Offizieren wurden
die Achselstücke abgeschnitten oder
abgerissen, manche wurden zu diesem
Zweck aus der Trambahn herausgeholt.
Bayrischer Ministerpräsident
ist der Jude Kurt Eisner, Justizminister
ist Timm geworden, ein ehemaliger
Schneider. Der König ist geflohen. Und
das alles, während die deutsche Abordnung
von der Entente im französ.
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XLIV (3. - 9. November) Zum 82.
Geburtstag meiner l. Mutter (6. Nov.)
stifte ich dieses Jahr keinen Kranz auf
ihr Grab in Einersheim; denn die
Preise sind ungeheuerlich. Die Schachtel
würde allein 3 M kosten, die Hälfte
des Kranzes. Dazu kommen noch die
Portokosten mit nahezu 2 M. Ein
solcher Aufwand läge nicht im Sinne
der Entschlafenen, glaube ich. Am
Montag beginnt wieder die Volksschule;
wird aber nach einigen Tagen
wieder geschlossen, weil die Grippe
wieder zunimmt. Dienstag bekommen
wir ein Telegramm, daß die Mutter
unserer Magd Margaret nach nur
2 tägiger Krankheit an Lungenentzündung
(Folge der Grippe) gestorben
ist. Damit ist die Magdfrage aufs
neue für uns brennend worden,
denn Marg. muß nun zuhause die
Wirtschaft versehen u. kann nicht
mehr kommen. - Mutter fühlt
Schmerzen auf der Lunge u. fragt Dr.
Tretzel, der zum Glück nur Rheumatismus
infolge der häuslichen Überanstrengung
feststellt; das ist doch besser als
die spanische Krankheit. Der Zeitungsbericht
verzeichnet in 3 Tagen etwa
80 Todesfälle, meist Kinder und jüngere
rechte Seite
weibliche Personen. Auf politischem
bzw. militärischem Gebiet bringt jeder
Tag eine solche Fülle an Umwälzungen,
daß man Bücher schreiben könnte; der
Bolschewismus in Österreich u. Ungarn,
Einrücken der Italiener in Bozen, Hinüberzüngeln
der bolschewistischen Unruhen
auf Deutschland: Hamburg, Hannover,
München. Und am Samstag wird
auch in - Würzburg auf dem Marktplatz
die bayerische Republik ausgerufen.
Der Arbeiter- und Soldatenrat besetzt
das Generalskommando gerade, nachdem
unsere Samstagssitzung zu Ende gegangen
ist. Im Hüttischen Garten sind Versammlungen,
die Menge verhält sich aber
wider Erwarten ruhig. Nur werden
den Soldaten, wenn sie es nicht selbst
tun, die Kokarden, vor allem die deutschen,
herabgerissen, den Offizieren wurden
die Achselstücke abgeschnitten oder
abgerissen, manche wurden zu diesem
Zweck aus der Trambahn herausgeholt.
Bayrischer Ministerpräsident
ist der Jude Kurt Eisner, Justizminister
ist Timm geworden, ein ehemaliger
Schneider. Der König ist geflohen. Und
das alles, während die deutsche Abordnung
von der Entente im französ.
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XLIV (3. - 9. November) Zum 82.
Geburtstag meiner l. Mutter (6. Nov.)
stifte ich dieses Jahr keinen Kranz auf
ihr Grab in Einersheim; denn die
Preise sind ungeheuerlich. Die Schachtel
würde allein 3 M kosten, die Hälfte
des Kranzes. Dazu kommen noch die
Portokosten mit nahezu 2 M. Ein
solcher Aufwand läge nicht im Sinne
der Entschlafenen, glaube ich. Am
Montag beginnt wieder die Volksschule;
wird aber nach einigen Tagen
wieder geschlossen, weil die Grippe
wieder zunimmt. Dienstag bekommen
wir ein Telegramm, daß die Mutter
unserer Magd Margaret nach nur
2 tägiger Krankheit an Lungenentzündung
(Folge der Grippe) gestorben
ist. Damit ist die Magdfrage aufs
neue für uns brennend worden,
denn Marg. muß nun zuhause die
Wirtschaft versehen u. kann nicht
mehr kommen. - Mutter fühlt
Schmerzen auf der Lunge u. fragt Dr.
Tretzel, der zum Glück nur Rheumatismus
infolge der häuslichen Überanstrengung
feststellt; das ist doch besser als
die spanische Krankheit. Der Zeitungsbericht
verzeichnet in 3 Tagen etwa
80 Todesfälle, meist Kinder und jüngere
rechte Seite
weibliche Personen. Auf politischem
bzw. militärischem Gebiet bringt jeder
Tag eine solche Fülle an Umwälzungen,
daß man Bücher schreiben könnte; der
Bolschewismus in Österreich u. Ungarn,
Einrücken der Italiener in Bozen, Hinüberzüngeln
der bolschewistischen Unruhen
auf Deutschland: Hamburg, Hannover,
München. Und am Samstag wird
auch in - Würzburg auf em Marktplatz
die bayerische Republik ausgerufen.
Der Arbeiter- und Soldatenrat besetzt
das Generalskommando gerade, nachdem
unsere Samstagssitzung zu Ende gegangen
ist. Im Hüttischen Garten sind Versammlungen,
die Menge verhält sich aber
wider Erwarten ruhig. Nur werden
den Soldaten, wenn sie es nicht selbst
tun, die Kakarden , vor allem die deutsche,
herabgerissen, den Offizieren wurden
die Achselstücke abgeschnitten oder
abgerissen, manche wurden zu diesem
Zweck aus der Trambahn herausgeholt.
Bayrischer Ministerpräsident
ist der Jude Kurt Eisner, Justizminister
ist Timm geworden, ein ehemaliger
Schneider. Der König ist geflohen. Und
das alles, während die deutsche Abordnung
von der Entente im französ.
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- Vera Braune
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