Kriegserinnerungen der Lazarettschwester Marie Delius, geb. Schiele, item 29

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-- 19 --

Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

totarbeiten. Wilhelmine ist etwas geziert und unnatürlich, geistlich angeregt,

liebevoll, aber empfindlich, Thesi ist ein richtiger kleiner

Frechdachs, bildhübsch, zart, nicht sehr leistungsfähig, aber sehr amüsant und

ein dankbares Publikum für schlechte Witze.

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Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

totarbeiten. Wilhelmine ist etwas geziert und unnatürlich, geistlich angeregt,

liebevoll, aber empfindlich, Thesi ist ein richtiger kleiner

Frechdachs, bildhübsch, zart, nicht sehr leistungsfähig, aber sehr amüsant und

ein dankbares Publikum für schlechte Witze.


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  • June 23, 2017 17:07:31 Irina Mastan

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    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

    auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

    Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

    Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

    und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

    abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

    d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

    Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

    Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

    die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

    gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

    Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

    Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

    Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

    verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

    6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

    auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

    muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

    beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

    vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

    43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

    Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

    Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

    möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

    von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

    entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

    unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

    totarbeiten. Wilhelmine ist etwas geziert und unnatürlich, geistlich angeregt,

    liebevoll, aber empfindlich, Thesi ist ein richtiger kleiner

    Frechdachs, bildhübsch, zart, nicht sehr leistungsfähig, aber sehr amüsant und

    ein dankbares Publikum für schlechte Witze.


  • June 23, 2017 17:00:29 Irina Mastan

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    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

    auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

    Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

    Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

    und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

    abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

    d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

    Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

    Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

    die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

    gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

    Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

    Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

    Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

    verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

    6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

    auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

    muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

    beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

    vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

    43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

    Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

    Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

    möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

    von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

    entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

    unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

    totarbeiten. Wilhelmine ist etwas geziert und unnatürlich, geistlich angeregt,

    liebevoll, aber empfindlich, Thesi ist ein richtiger kleiner

    Frechdachs, bildhübsch, zart, nicht sehr leistungsfähig, aber sehr amüsant und

    ein dankbares Publikum für schlechte Witze. 


  • June 23, 2017 16:59:09 Irina Mastan

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    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

    auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

    Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

    Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

    und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

    abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

    d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

    Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

    Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

    die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

    gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

    Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

    Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

    Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

    verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

    6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

    auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

    muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

    beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

    vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

    43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

    Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

    Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

    möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

    von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

    entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

    unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

    totarbeiten. Wilhelmine ist etwas geziert und unnatürlich, geistlich angeregt,

    liebevoll, aber empfindlich, Thesi ist ein richtiger kleiner

    Frechdachs, bildhübsch, zart, nicht sehr leistungsfähig, aber sehr amüsant und

    ein dankbares Publikum für schlechte Witze.


  • June 23, 2017 16:59:05 Irina Mastan

    -- 19 --

    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

    auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

    Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

    Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

    und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

    abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

    d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

    Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

    Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

    die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

    gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

    Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

    Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

    Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

    verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

    6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

    auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

    muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

    beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

    vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

    43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

    Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

    Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

    möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

    von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

    entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

    unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

    totarbeiten. Wilhelmine ist etwas geziert und unnatürlich, geistlich angeregt,

    liebevoll, aber empfindlich, Thesi ist ein richtiger kleiner

    Frechdachs, bildhübsch, zart, nicht sehr leistungsfähing, aber sehr amüsant und

    ein dankbares Publikum für schlechte Witze.


  • June 23, 2017 16:55:51 Irina Mastan

    -- 19 --

    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

    auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

    Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

    Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

    und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

    abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

    d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

    Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

    Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

    die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

    gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

    Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.

    Die Schwestern waren alle begeistert von dieser Festfeier in Feindesland.

    Wenn nur erst die "Weltgeschichte" wieder weiter ginge! Man ist oft ganz

    verzagt, daß noch nirgends eine Entscheidung gefallen ist nach den

    6 Monaten gewaltiger Anstrengungen, und der Mut will einem sinken, ob wir

    auch noch Herr werden über all unsere Feinde. Und doch sagt man sich, es

    muß weiter gekämpft werden, wir müßen siegen oder untergehen. Aber

    beides ist bitter schwer. Sehr gemütlich ist unser Zusammenleben zu

    vieren in der Wachstube, ich fungiere als Mutter, Schw. Katrin eine

    43-jährigevom würtemb. Trupp als Tante, 2 junge Schwestern, eine Beth.

    Novize Wilhelmine Recke, eine Beth. Johanniterin und Braut als Kinder.

    Wir vertragen uns gut und haben allerlei kleine Späße, stören uns auch

    möglichs wenig im Schlaf oder in unseren Unternehmungen. Sehr nett ist es

    von anderen, daß sie mich von dem abwechselnden Reinmachdienst

    entbunden haben. Katrin ist eine urwüchsige Schwäbin, spricht einen fast

    unmöglichen Dialekt, ist bequem und witzig, wird sich wohl nie

    totarbeiten. Wilhelmine ist etwas gezeiogert


  • June 23, 2017 16:44:13 Irina Mastan

    -- 19 --

    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,

    auch dem jungen Vikar Löw, der uns oft Gottesdienst hält in seiner

    Sanitäruniform, und dem Klausing, einem Guttempler unter den

    Sanitärn habe ich scharf zu machen versucht für den Kampf gegen Alkohol

    und Liederlichkeit. Gott segne unsere Arbeit, wenns auch nur einige

    abhält von der Sünde, wollen wir zufrieden sein.

    d. 3. Febr.     Wir sind noch immer hier in Lille.

    Es wird immer weniger Arbeit, freilich nicht in unserer Typhusbaracke.

    Ich war ein paar Tage stark erkältet, wachte nicht, kam aber dadurch um

    die Kaisergeburtstagfeier, die wunderschön "weltgeschichtlich bedeutend"

    gewesen sein soll. Am 26. Parade vor dem Kronprinzen von Bayern, abends

    Zapfenstreich mit Illumination, am 27. Festgottesdienstin St. Maurice.


  • June 23, 2017 16:37:23 Irina Mastan

    -- 19 --

    Einmal war ich auf der Zitadelle, der Kaserne von Lille, man brauchte

    dazu einen Schein von der Kommandantur. Es ist ein altes Festungswerk

    von 1670, für heutige Kriegszwecke unbrauchbar, aber interessant zu

    sehen. Das Wetter ist noch immer entsetzlich, so naß und kalt und

    unfreundlich, wie wir es in Deutschland nicht kennen. So soll es in Lille

    den ganzen Winter sein. Es ist ein ungesundes Klima. Eben habe ich mir

    ausnahmsweise ein großartiges Dinner geleistet: Maggisupe, in Butter

    aufgebratenes Fleisch vom Mittag, Tengelmannschokolade und schwarzer

    Kaffee mit Zigaretten. Und zwar habe ich es fast ungestört zu mir nehmen

    können. Ich habe auf Pastor Delius Veranlassung Schriften vom

    Sittlichkeitsverein bekommen, die will mir der deutsche Marketender  ausliefern,



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  • 50.62932559999999||3.0568347999999332||

    Lille, Neu Sandec

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  • Story location Lille, Neu Sandec
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ID
12644 / 148889
Source
http://europeana1914-1918.eu/...
Contributor
Friedrich Delius
License
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/


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